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Eisfallklettern im Val di Cogne

13.02.2022

Eisfallklettern im Aosta-Tal

Anreise nach Gimillan

Als am 9. Februar 2022 “E”s Wecker klingelte, zeigte der Stundenzeiger sicherlich noch auf die “Drei” – um kurz nach halb fünf stand Andreas Günther mit seinem schicken schwedischen Kombi vor meiner Tür, wo das theoretische Kofferraumvolumen von 560 Liter mit den Praxiswerten abgeglichen wurde; um viertel vor fünf Uhr war der Kofferraum nach unserer Einschätzung als mehr oder weniger voll zu bezeichnen. Bereits vor fünf Uhr standen wir bei unserem Tourenführer Olli Mohrlok vor der Haustür und fragten uns, wie wir die aktuellen Coronabestimmungen in Italien mit dem zusätzlichen Packvolumen, welches uns in Ollis Hof erwartete, in Einklang bringen könnten. Mehrere Eurobehälter, Rucksäcke, Taschen, Eisgeräte, Stöcke und ca. 135 kg sonstiger Stahl erwartete uns. Wir wissen nicht, wie wir das Kunststück vollbracht hatten, aber um fünf Uhr saßen wir zu dritt vollzählig und mit dem kompletten Gepäck im Schweden und waren logistisch darauf vorbereitet, nach Martigny im Wallis bzw. dem St. Bernard – Tunnel im Aostatal in Italien coronakonform unterwegs zu sein – Beifahrersitz frei (wenn man von unseren Rucksäcken und Eisgeräten absah), im Fonds Olli links, ich rechts, Mitte frei, selbstredend corona- und karnevalskonform maskiert und mit Antigenschnell- sowie zusätzlich aus eigenem Interesse mit PCR – Test präpariert; allerdings aufgrund der aktuellen Laborüberlastungen bislang ohne Ergebnis. Immerhin hatten wir vor, in Gimillan, einem Teilort von Cogne, fünf Tage in einer schnuckeligen Ferienwohnung kuschelig in einem gemeinsamen Schlafzimmer zu nächtigen, uns in einer äußerst kompfortabel ausgestatteten Küche selbst zu versorgen und ansonsten ohne weitere Kontakte in einer Dreierseilschaft Top – Klassiker der Eisfallkletterszene zu genießen.

Noch bevor wir uns in Gimillan auf die Suche nach unserer wirklich gut versteckten Unterkunft im Nido (“Nest”!) delle Aquile machten, parkten wir gegen 12:00 Uhr in unmittelbarer Nähe unserer Unterkunft – was uns noch nicht bewusst war – im Vallon (“Schlucht”) di Grauson, wo wir mit der Route Oceano Polare den ersten Klassiker aufsuchten.

Oceano Polare im Vallon di Grausson

Zweite Seillänge der Oceano Polare

Nach einiger Sucherei innerhalb der etwas unübersichtlichen Siedlung gaben wir auf und kontaktierten den Vermieter, welcher uns bereitwillig durch die schmalen Gassen zu unserer Unterkunft führte. Nachdem gar nicht daran zu denken war, mit unserem Fahrzeug zur Unterkunft zu gelangen, durften wir noch etwas Fitnesstraining absolvieren und benötigten eine ganze Weile, bis das Quartier bezogen war. In Anbetracht der fortgeschrittenen Stunde entschieden wir uns für ein von Olli bereits daheim vor- und nun schnell zubereitetes Gemüse – Pasta – Gericht – in Kombination mit einem schweren, silizialinischen Rotwein der krönende Abschluss eines wunderschönen Anreisetags.

An Schlaf war aus bis heute für uns nicht nachvollziehbaren Gründen nicht zu denken, und so hielt sich die Begeisterung am nächsten Morgen in Grenzen, als um 4:30 Uhr drei Wecker klingelten. Wie bereits am Tag zuvor kannte jeder ohne jegliche Absprache seinen Zuständigkeitsbereich, so dass wir bereits eine Stunde später nach einem fürstlichen Frühstück, gestiefelt und gespornt die besen- und spülsteinrein hinterlassene Unterkunft verlassen und das Fahrzeug gepackt hatten. Wie geplant, befanden wir uns bereits um punkt sechs Uhr im trüben Licht unserer Stirnlampen auf dem Zustieg von Lillaz durch das Seitental Valleile. An diesem Tag wollten wir uns besonders vorsichtig auf dem teils spiegelglatten Untergrund fortbewegen, denn tags zuvor hatte sich Olli durch einen Sturz eine Prellung an einer Rippe zugezogen – insofern kannte wenigstens unser Übungsleiter die Ursache für die durchwachsene Nachtruhe.

Die zweite Seillänge der “Pattinaggio Artistico”

Heute sollte es die “Pattinaggio Artistico” werden – natürlich wieder ein Top – Klassiker des Aostatals, fünf Seillängen, 180 Meter Klettervergnügen. Auch an diesem Tag lag die Schwierigkeit bei WI 3; allerdings durften wir mit Gepäck klettern, da nicht über die Route zum Ausgangspunkt abgeseilt wurde, sondern der fußläufige Abstieg so verlief, dass ein Rucksackdepot nicht in Frage kam. Wie wir gehofft hatten, waren wir die erste Seilschaft in der Route, so dass wir ohne Eisschlag von oben sicher und zügig klettern konnten und bereits am frühen Nachmittag – nicht bevor wir noch der Cascata de Lillaz, einem “aktiven” Wasserfall den Pflichtbesuch abgestattet hatten – den Weg nach Gimillan antreten durften. Dort entschieden wir uns zur Feier des Tages für den Besuch eines ortsansässigen Lokals, wo wir auf der Terasse im Sonnenschein mit Sonnenbrille eine vorzügliche “torta de la casa” und den obligatorischen Espresso genießen durften. Zwischenzeitlich waren die PCR – Testergbnisse von E und mir eingetroffen: negativ. Anschließend tauschten wir den Terrassenplatz mit Blick auf das herrliche Bergpanorama gegen die Gartenterasse unserer Unterkunft mit Blick auf das gleiche herrliche Bergpanorama – la vita e bella! Den Ausklang des Tages bildete ein Kichererbsengericht de Lando, begleitet von einem Glas köstlichen Grauburgunders – die perfekte Grundlage für eine Nacht erholsamen Schlafs.

Ausblick von unserer Ferienwohnung in Gimillan

Auch am Freitag wollen wir die ersten am Eisfall sein – daher wurden auch an diesem Morgen die rituellen Waschungen, das Frühstückszeremoniell und die Materialaufteilung in gewohnt effizienter Weise durchgeführt, so dass man den Parkplatz im nächsten Tal, nämlich dem Valnontey wieder bereits gegen 6:00 Uhr erreicht hatte. Es handelt sich um einen wunderschönen, wilden und urspünglichen Flecken Erde: kleine Wälder und Lichtungen wechseln einander ab und bieten sogar Gelegenheit, weidendes Wild wie Gemsen zu beobachten. Wanderweg und Langlaufloipe kreuzen sich regelmäßig, und hätten wir keine Eisgeräte dabeigehabt, hätten wir nicht lange überlegen müssen, wie wir uns die Zeit vertreiben; idyllischer kann eine Loipe nicht platziert sein!

Andreas übernimmt den Vorstieg

“Patrì” hieß das Objekt der Begierde – vier Seillängen, allerdings 250 m. Nach Ollis Erfahrungen mit seinen Mannen wollte er uns heute eine WI 4 zumuten – das Ergebniss war “Genuss pur”. Allerdings wurden wir nun auch bewertungskonform mit röhrigem sowie “Blumenkohl-” Eis und teils nahezu vertikalen Passagen konfrontiert. Aufgrund des milden Klimas der vorangegangenen Tage war es zu einem entsprechenden Wassereintrag gekommen, welcher die Grundmasse des Eises entsprechend beeinflusst und zum Teil für eine Hinterspülung gesorgt hatte. Beim Ausstieg über die Candelone di Patrì konnte die Steilheit zum Teil “weggespreizt” werden, so dass sie auch für Ollis Nachsteiger gut zu bewältigen war. Nur ca. drei Stunden hatten wir für den Durchstieg benötigt. Wie in der “Oceano poleare” konnten wir auch in der “Patri” über die perfekt eingebohrte Route abseilen, allerdings nicht über die Route selbst sondern seitlich versetzt über imposante Röhren und Zapfen. Immer wieder war man gezwungen, sich möglichst sanft und zärtlich von selbigen abzustoßen, um die Struktur nicht zu brechen und den Abbruch eines übermannsgroßen Zapfen auszulösen.

In der “Candelone di Patrì” WI4

Am Einstieg angekommen, traute ich meinen Augen nicht, als ich Dörte Pietron, einer deutschen Extrembergsteigerin gegenüberstand. Ich hatte Dörte bereits vor drei Jahren auf der Blaueishütte im Berchtesgadener Land im Rahmen eines Lehrgangs kennenlernen und mit ihr in einer Zweierseilschaft klettern dürfen (Klein – Lando als Prüfling im Vorstieg). Sie war die erste Frau, welcher die Durchsteigung der Westwand des Cerro Torre gelungen war. Die diplomierte Physikerin gehörte bereits zwischen 2003 und 2005 zum Expeditionskader des DAV, ist Mitglied in der Kommission “Leistungsbergsteigen” des DAV und war nun mit den aktuellen vier Teilnehmerinnen des DAV-Frauenteam – Expeditionskaders in der gleichen Route wie Klein – Olli, Klein – “E” und Klein – Lando als Vertreter der Sektion Freudenstadt. Nun war auch Ollis PCR – Ergebnis eingetroffen: negativ.

Abends beim Kochen

Für Samstag war das letzte “Highlight” vorgesehen – das Valnontey hatte es uns so angetan, dass wir uns am Abend zuvor beim letzten Glas Rotwein nach Ollis zweitem veganen Gericht dazu entschlossen hatten, in die “Monday Money” einzusteigen. Fünf Seillängen, 220 m und mehr oder weniger anhaltend WI 4 – nun ja, wir wollten ja wissen, wo “der Barthel den Most holt”. Um 4:00 Uhr war die Nacht zu Ende, um 5:30 Uhr trafen wir am Parkplatz… richtig: Dörte und den Expeditionskader – ohne dass wir uns verabredet hatten! Leider wollte Olli in praxe empirisch ermitteln, ob wir zu dritt mit unseren 130 Lenzen einem dreiköpfigen Leistungskader mit ca. 85 Lenzen im Zustieg Schritt halten können. Knapp zwei Stunden waren im Führer angegeben – vor lauter Übermut hielten wir mit rasendem Puls Schritt, holten die jungen Damen am Abzweig zu unserem Fall ein und waren felsenfest davon überzeugt, dass es sich hierbei noch lange nicht um den richtigen Abzweig handeln könne. Nach einigen Irrläufern im Finstern des noch nicht angebrochenen Tags gaben wir uns geschlagen und folgten den Stirnlampen der Profis. Tatsächlich, wir hatten bereits den richtigen Eisfall im Visier gehabt und machten uns nun an den steilen Zustieg zum Einstieg, welchen wir trotz Verzögerungen in ca. anderthalb Stunden erreichten. Dörte hatte sich natürlich standesgemäß für die “Repentance Super” mit der für unsere Seilschaft unerreichbaren WI 6 entschieden – auf uns wartete der freie Ultraklassiker “Monday money” – wir waren also trotz unseres “Verhauers” die Ersten! Allein über diese Route ließe sich ein eigener Bericht verfassen, welcher jeglichen Rahmen sprengen würde. Um es kurz zu machen: laut Ollis Berichten zog der Extrem – Profi – Eiskletterer Matthias Scherer (“Eisklettern ist eine Methapher”) aufgrund seiner Passion nach Cogne und klettert mindestens einmal im Jahr die Repentance Route, um auf dem schönstgelegenen Schneeplateau der Erde die Aussicht auf den direkt gegenüber liegenden Gran Paradiso und das übrige grandiose Bergpanorama genießen zu dürfen. Nach einer traumhaften Kletterei in oft anhaltend, nahezu vertikalen Passagen genossen wir eine einstündige Rast auf dem “schönsten Plateau” – und das Leben. Erst als wir das Abseilen vorbereiten wollten, traf die nächste, eine amerikanische Seischaft ein.

Die Ernüchterung folgte – ca. zehn Seilschaften kamen uns entgegen, so dass wir praktisch keinen Zwischenstand “corona-konform” einrichten konnten. Wir trafen auf die unterschiedlichsten Nationalitäten und wussten nun endgültig, dass wir uns hier im Eiskletterparadies schlechthin befanden! Die vollen Stände konnten unser Hochgefühl jedoch in keiner Weise trüben, und so trafen wir zu später Stunde euphorisiert in unserem Quartier an und genossen unser letztes gemeinsam gekochtes Abendessen und die letzten Tropfen unseres Sizilianers.

Am Sonntag traten wir am Morgen kurz nach dem siebten Glockenschlag die Rückfahrt an und konnten auf diese Weise ohne jegliche Verkehrsstörungen bereits am frühen Nachmittag unsere Liebsten wieder in den Arm nehmen. Mit unserer Ausfahrt hatten wir unter strikter und konsequenter Einhaltung der sektionsspezifischen CO2 – Regeln (Radius 100 km / Tag) und Beachtung des Infektionsschutzgesetzes (max. drei Personen / Kfz) unter Ausschluss jeglichen Ansteckungsrisikos (autarke Versorgung) eine traumhafte Unterbrechung des Alltags erlebt. Olli sei Dank!

Lando