© DAV Freudenstadt

Monterosa

19.08.2015

Wallis – Spaghettirunde vom 16. bis 19. August 2015

Am Sonntag starteten Oli Dorka mit seinem Mädel (Ellena) und seinen Mannen (Helmut S., Bernhard G., Claus, Sven Springwald und Lando) gegen fünf Uhr am Alpintreff.

Sechs Stunden später gelangten wir in Staffal im Aostatal (Monte Rosa) an, wo sich die „Vernünftigen“ (also Gehfaulen – Oli, Helmut und Lando) mit der Seilbahn zum  Gletscher von Indren chauffieren ließen. Die völlig Übermotivierten hechelten der bereits aus Innsbruck separat und einige Stunden vorher angereisten und  aufgebrochenen Eva hinterher und erreichten die Montova – Hütte (3.498 m) nach der Überwindung von 1.600 Höhenmetern und einem eigentlich überflüssigen aber wohl der Übermotivation entsprungenen Schlenker zu einem Nebengipfel der Monta- Rosa – Gruppe einigermaßen pünktlich zum Abendessen, welches – als (un-)gerechter Lohn für die (entfallenen) Strapazen – weniger als spärlich und phantasielos ausfiel.  

Tags drauf startete die Truppe um 6:30 Uhr vor der Hütte und marschierte in  20 Minuten zur nahegelegenen und 150 m höher gelegenen  Gnifettihütte (3.647 m), wo die drei „Vernünftigen“ am Vortag bereits Seile und Material wohlweislich und nach strategischer, taktischer und operativer Planung deponiert hatten (tatsächlich hatte man sich am Vortag schlicht und ergreifend im Nebel verlaufen und die falsche Hütte angesteuert). Von dort ging es weiter zur Vinzent – Pyramide (4215 m)  im südlichen Teil des Monte-Rosa-Massivs. Über dem Gipfel, welchen die meisten der acht Bergsteiger als ihren ersten 4.000er mit der oralen Einnahme einer liquiden Zwetschge feiern durften, verläuft die Grenze zwischen Aostatal und Piemont. Angemessen gefeiert wurde die erste Station unserer „Individual – Spaghettirunde“  am Nachmittag auf der Terrasse der Gnifettihütte. Das dort gereichte Abendessen entsprach im Vergleich zum spärlichen Mahl auf der Montovahütte einer „haute cuisine“.

Am dritten Tag unserer Unternehmung klingelte der Wecker deutlich früher, so dass nach einem gestaffelten Frühstück – es zeigte sich, dass so jeder seine eigenen morgendlichen Vorlieben und Gewohnheiten besitzt – um halb sechs zwei komplett ausstaffierte Vierer – Seilschaften erwartungsvoll vor der Hütte standen. Kameradschaftlich wurden Stirnlampen – Vakanzen unter den Seilschaften ausgeglichen, so dass dem Sturm des zweiten 4.000ers nichts mehr im Wege stand. Der Corno Nero (4.321 m) sollte es sein – das Objekt der Begierde. Wir ließen diesmal die Vinzentpyramide rechts liegen, – im dichten Dunst, so ohne Sicht,  leider auch den Corno Negro (Schwarzhorn) – so dass wir nach einem beherzten Durchstieg eines im Gipfelbereich kombinierten Geländes auf der Ludwigshöhe (4.341 m), also etwas abseits unseres eigentlichen Ziels landeten. Immerhin hatten wir dadurch dank unserem Oli einen selbst gespurten und technisch interessanten sowie 20 Meter höheren Gipfelaufstieg realisiert.

Der dritte Streich erfolgte sogleich – mit der Parrotspitze (4.432 m). Nachdem sich zwischenzeitlich das Wetter von seiner schönsten Seite zeigte, war der Aufstieg und die Sicht in die umliegende Bergwelt spektakulär. Von Westen und Osten erscheint dieser selbstständige 4.000er der Monta Rosa – Gruppe als schnittige Firnpyramide, von Norden (Grenzgletscher) als  breiter Firnbuckel und von Süden als Berg mit einer steilen kombinierten Wand. Auf der „Himmelsleiter“ ging es auf einem scharf geschnittenen Grat, welcher auf der Südwestseite ins Bodenlose zu fallen scheint, zum höchsten Punkt der Parrotspitze, dem Punta Parrot (4.432 m), wo wir uns aufgrund der eisigen Temperaturen nur kurz aufhielten, und Richtung Nord  -Nord – West ein kleines Stück zu unserem sonnigen Schnapserl – Rastplatz abstiegen.

Unser nächstes Ziel für den Nachmittag war die Zumsteinspitze (4.563 m), ein  Grenzgipfel zwischen Schweiz und Italien. Sie liegt zwischen der Dufourspitze und Signalkuppe, jeweils getrennt durch den Grenzsattel (4453 m) und Colle Gnifetti (4453 m). Nachdem der Weg auf den Gipfel der Zumsteinspitze konsequent die Sicht zur heute als letztes Ziel anvisierten Rifugio Margharita bot, stellte dieses Etappenziel nochmals auch in psychischer Hinsicht eine echte Herausforderung dar. Wie bereits die Vinzentpyramide am Vortag bot die Zumsteinspitze im Gipfelbereich kombiniertes Gelände. Auch hier fiel die Gipfelrast aufgrund der eher ungemütlichen Temperaturen kurz aus, und wir stiegen ab in Richtung Signalkuppe (4.554 m). Diese trägt direkt auf dem Gipfel die höchstgelegene Schutzhütte Europas, die Capanna Regina Margherita, benannt nach der italienischen Königin Margarethe von Italien, welche den Berg im August 1893 bestiegen hatte. Nachdem wir von der Zumsteinspitze Richtung Süd – Süd – Ost im Rahmen des Abstiegs wieder deutlich an Höhe verloren, war die psychische  Belastung des letzten Anstiegs auf die Signalkuppe extrem. Die beiden eingesetzten Seile dienten nicht mehr nur der Sicherung sondern bisweilen auch der Unterstützung der physisch Ausgezehrten durch Einsatz des Seils auf Zug. Die Hütte gehörte nahezu uns alleine, mit  Ausnahme einer größeren ungarischen Gruppe, einem Medizinstudenten aus Lausanne sowie ein paar wenigen anderen Bergsteigern.

 

Der Student sprach uns auch bald an und gewann den einen oder anderen aus unserer Gruppe als Studienobjekt für seine Masterarbeit. Deren Ziel war die Erforschung des Zusammenhangs zwischen der Produktion des körpereigenen Cortisols und den Symptomen der Höhenkrankheit. Oberhalb einer Schlafhöhe von 2.500 Meter („Schwellenhöhe“) muss sich der menschliche Organismus mittels eines komplexen Mechanismus mühsam umstellen, um überleben zu können. Die „Höhenakklimatisation“ ist in erster Linie eine Frage der Zeit, der Flüssigkeitszufuhr und der individuellen Anpassungsfähigkeit. Wenn die Akklimatisation scheitert, etwa weil zu schnell zu hoch gestiegen, zu wenig getrunken  wurde o. ä., kippt das System, und man wird höhenkrank. Laut früheren Untersuchungsergebnissen auf der Rifugio Margherita ist jeder Zweite betroffen, was wir innerhalb unserer Gruppe von acht Personen  empirisch ermitteln und bestätigen konnten.

Nachdem die Capanna Regina Margherita und die Gnifetti Punta gemeinsam geführt werden, war auch hier die Verköstigung exzellent, so dass wir wieder zu Kräften kommen und regenerieren konnten. Viele von uns schliefen ausgiebig im Lager, bevor wir am Abend wieder ein vorzügliches Mehrgänge – Menu genießen durften. Natürlich wurde auch hier wieder die für eine Spaghettirunde obligatorische Pasta als Vorspeise gereicht. Während des Abends riskierte man immer wieder einen Blick aus den Fenstern der Hütte und glaubte, morgen wäre Weihnachten; es schneite unaufhörlich.

Die Nacht war von individuell mehr oder weniger Kopfschmerzen geprägt, so dass am nächsten Morgen des mittlerweile vierten Tags der eine oder andere verkatert am Frühstückstisch saß. Ein Tritt vor die Hütte bestätigte die Vermutung, dass uns die Nacht wohl einen halben Meter Neuschnee beschert hatte, und es schneite immer noch.  Nachdem die Studienteilnehmer zeitgleich mit ihren Untersuchungen (Speichelprobe, Blutdruck- und Pulsmessung) beschäftigt waren, dauerte das Frühstück heute etwas länger als üblich. Oli hatte sich mit dem Führer der ungarischen Gruppe abgesprochen, dass man zeitgleich aufbreche und sich beim Abstieg mit dem Spuren abwechsle.

 

So standen am späten Morgen ungefähr zwanzig Bergsteiger aufbruchsbereit im Schnee vor der Hütte – die Deutschen sollten den Anfang machen. Weniger beherzt als zögerlich brachen wir auf. Nach wenigen Schritten brachen wir auf Geheiß unseres bis zur Hüfte im Schnee eingesunkenen Führers Oli ab und mussten erkennen, dass wir nichts erkennen. Zu dem tiefen Schnee addierte sich die miserable Sicht. Nachdem bereits die erste Etappe eine steile Rampe darstellte, war die Gefahr eines Lawinenabgangs zu groß, und wir beendeten unser Vorhaben. Die Ungarn hingegen wollten nicht klein beigeben und setzten ihr Himmelfahrtskommando fort.

Ungefähr zwei Stunden später trafen sie völlig erschöpft wieder bei uns in der Hütte ein und berichteten uns von ihrem Abenteuer, welches sich leicht zu einem Drama hätte auswachsen können. Ein Mitglied der ungarischen Gruppe war bei uns geblieben und hatte uns währenddessen von dem einen oder anderen „Geniestreich“ ihres Führers berichtet.

Wir hatten uns die Zeit bis zum Mittag mit Gesprächen, Lesen und Kartenspielen vertrieben. Endlich riss der Himmel auf, und wir schickten uns an, unsere Rucksäcke zu packen, aufzusetzen und die Klettergurte zu fixieren. Schnell waren unsere beiden Seilschaften gebildet, und so standen wir bald startbereit vor der Hütte. Die Ungarn hatten sich uns angeschlossen und folgten uns. Unser Glück war zum einen ein Zeitfenster von ca. drei Stunden mit einer stabilen Wetterlage – ein wolkenloser Himmel mit einer phantastischen Sicht in die umliegende Bergwelt beglückte uns -, zum anderen der Umstand, dass Karawanen von Bergsteigern den Weg nach oben suchten und uns den Weg zur Gnifettihütte spurten.

 

Den potentiell sechsten Gipfel – den versäumten Corno Nero – ließen wir nach langem Zögern und seilschaftsinternen Diskussionen, verbunden  mit einigem Wehmut, links liegen und erreichten nach zweieinhalb  Stunden die Gnifettihütte, wo wir, eingesetzt als „Spediteur“  ein paar Nahrungsmittel – Vorräte der Rifugio Margherita dem Hüttenpersonal übergaben und ein paar dort zurück gelassene Habseligkeiten in unsere Rucksäcke packten. Weiter ging es, erstmalig ohne Steigeisen und Seil, zur Bergstation  der Gletscherbahn, wo wir gerade noch rechtzeitig vor dem nächsten ausgiebig einsetzenden Niederschlag in die Gondel einstiegen.

Glücklich und erschöpft erreichten wir am frühen Abend den Parkplatz in Staffal, wo wir in unsere Fahrzeuge stiegen und mit immerhin fünf Gipfeln im Gepäck die Heimreise antraten.    

Lando